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Work hard, play hard: Der Lebemann Johann Sebastian Bach

Aktualisiert: 12. Juli 2022


Was nach ultramodernem, neoliberalem Bonmot klingt, hat Bach schon vor 300 Jahren perfektioniert. Wer hart arbeitet, kann und darf auch kräftig feiern und konsumieren. Sei es Bier, starker Tobak, Branntwein oder fancy Essen. Nur begann Bach dann, wenn es dunkel wurde und sich heutige Überstundenschieber zur Afterwork-Party anschicken, … zu komponieren. Für diesen Text habe ich den Musikwissenschaftler und Bach-Experten Prof. Dr. Michael Maul vom Bach-Archiv befragt. Seit 2018 ist er Intendant des Bachfestes Leipzig.


Zeit seines Lebens pflegte Johann Sebastian Bach einen exzessiven Arbeits- und Lebensmodus. Er arbeitete bis zum Umfallen. Sein Haus glich einem „Taubenschlag“, so Michael Maul, Besucher und Schüler gingen ein und aus. Überhaupt greift unsere moderne Vorstellung von geregelten Arbeitszeiten – und auch freien Tagen! – bei Bach überhaupt nicht.


Zeitraubend war das Organisieren der musikalischen Abläufe in Leipzig, denn schließlich war er als Thomaskantor nicht nur dafür verantwortlich, jeden Sonntag eine Kantate zu dirigieren, sondern auch für jede Hochzeitsmusik und Beerdigung hatte er die musikalische Oberaufsicht. Er leitete die Sängerknaben an und musste ihnen Woche für Woche die anspruchsvollen Stücke „einprügeln“, so Maul. Sicherlich gab er viel an seine Assistenten, die Präfekten ab, nur, die musste er ja auch wiederum anleiten. Zudem tanzte er nebenher noch auf so manch anderer Hochzeit. Aber im besten Sinne. Im Collegium Musicum, einem aus seinen Söhnen und Studenten bestehenden Ensemble, spielten sie zweimal pro Woche im Zimmermannschen Kaffeehaus in der Leipziger Katharinenstraße. Mit Kammermusik und Orchestersuiten begeisterten sie die Gäste. Dazu kamen noch die Privatschüler. Und er verlieh Instrumente. Er und Anna Magdalena Bach bildeten ihre zahlreichen Kinder musikalisch aus und ertrugen den tagtäglichen Wahnsinn einer so großen Kinderschar, ließen sie singen, komponieren, Cembalo spielen. Fast könnte man von einer Bach AG sprechen. Die Bachs waren Eltern von fünfzehn gemeinsamen Kindern, von denen sieben im frühen Kindesalter verstarben. Zudem brachte er noch mehrere Kinder aus erster Ehe ein. Es war also immer full house!


Paul Hindemith sagte in seiner Rede „Johann Sebastian Bach. Ein verpflichtendes Erbe“ 1950, dass Bach auch im Essen und Schmausen „ein ganz Großer“ gewesen sei. In seinem Brief vom 13. Januar 1775 an Bachs Biographen Forkel schrieb Carl Philipp Emanuel Bach: „In Beurtheilung der Arbeiten war er, qvoad Harmoniam, sehr streng, jedoch schätzte er alles außerdem alles würcklich gute u. gab ihm seinen Beyfall, wenn auch Menschlichkeiten mit darunter zu finden waren. (…) Sein Der Umgang mit ihm war jederman angenehm, u. oft sehr erbaulich.“ Wir wollen Bach als Lebemann in den folgenden Zeilen nachspüren und seine Lebens- und Arbeitsweise anhand der spärlich vorhandenen Dokumente darlegen. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Michael Maul, ohne dessen Fachwissen und funkensprühende Begeisterung dieser Text nicht entstanden wäre.


In einem Brief von 1712 behauptete der Augsburger Musikstudent und Stipendiat des Stadtrates Philipp David Kräuter, er hätte in Weimar jeden Tag sechs Stunden (!) Unterricht bei Bach genossen. Als „vortrefflichen, dabey auch sehr getreuen Mann“ beschreibt er ihn. Für diese Aufgabe erhielt Bach mit 80 Thalern pro Jahr eine stattliche Summe, sodass Kräuters Angabe schon fast wieder stimmen könnte, so Michael Maul. Bach wusste, sich nicht unter Wert zu verkaufen. Er war geschäftstüchtig. Die Frage ist nur: Wie schaffte er dieses gewaltige Pensum? Wie schaffte er es, diese Flut an Verpflichtungen zu stemmen? Und, fast möchte man sagen – nebenher –, diese unsterbliche Musik zu komponieren.


Neben dem Komponieren war er nämlich auch ein bedeutender Erneuerer der Klavierspieltechnik, ein großartiger Instrumentalist und Orgelkenner, wie dem unter anderem von Carl Philipp Emanuel Bach verfassten Nekrolog zu entnehmen ist: „Vor ihm hatten die berühmtesten Clavieristen in Deutschland und andern Ländern, dem Daumen wenig zu schaffen gemacht. Desto besser wußte er ihn zu gebrauchen. Mit seinen zweenen Füssen konnte er auf dem Pedale solche Sätze ausführen, die manchem nicht ungeschikten Clavieristen mit fünf Fingern zu machen sauer genug werden würden. Er verstund nicht nur die Art die Orgeln zu handhaben, die Stimmen derselben auf das geschickteste mit einander zu vereinigen, und jede Stimme, nach ihrer Eigenschaft hören zu lassen, in der größten Vollkommenheit; sondern er kannte auch den Bau der Orgeln aus dem Grunde.“


Im Gespräch mit Michael Maul kommt Licht ins Dunkel aus schöpferischer Meisterleistung, alltäglichem Organisationswahnsinn inklusive dem sich Herumschlagen mit einem Haufen mehr schlecht als recht singender Buben. Die meiste Arbeit bereiteten ihm die Grundlagen, die Entwicklung eines neuen Themas, des musikalischen Einfalls. Das sieht man seinen Kompositionspartituren auch an. Auf den ersten Seiten sind viele Stellen ausgekratzt und durchgestrichen. Sobald aber die Grundstruktur stand, füllte er die restlichen Seiten scheinbar fast mechanisch. War die Partitur niedergeschrieben, mussten die einzelnen Stimmen ausgeschrieben werden. Meistens übernahmen das Thomaner. Am Ende musste das neue Stück noch geprobt werden. Übertrieben viel Zeit war dafür nicht eingeplant: „Es erscheint fast wie ein Wunder, wie am Ende diese Kinder, die mit einer Musik konfrontiert wurden, die so viel schwerer war, als was sie je gehört und gesehen haben, diese Werke Bachs aufführen konnten“, so Maul. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Als Aufführungsleiter muss Bach ein begnadeter Erzieher und Pragmatiker gewesen sein. Ein wenig muss man Bachs Leistung auch relativieren, denn das eifrige Komponieren von Woche zu Woche war in der Champions League der Kirchenmusiker im 18. Jahrhundert nichts Besonderes: Georg Philipp Telemann produzierte als Kapellmeister und Hamburgs Director Musices ebenso wöchentlich Musiken und das über viele Jahre. „Diese Menschen waren damals mit einer wahnsinnigen Selbstdisziplin an der Arbeit“, konstatiert Maul aufrichtig bewundernd. Dabei schuf Bach in sich so kunsthafte und kreative Stücke, dass man ihnen den enormen Zeitdruck niemals anhört. Sie scheinen in völliger Stille und Klarheit entstanden. Doch während bei Beethoven ganze Skizzen von Symphonien erhalten sind und nachzuvollziehen ist, wie er Monate und Jahre mit Themen schwanger ging, war das bei Bach und in der Zeit völlig anders: Die Stücke wurden meist innerhalb kurzer Zeit komponiert.


Mit dem Thomaskantorat und den vielfältigen Nebenbeschäftigungen war Bach noch längst nicht voll ausgelastet. Verreist ist er im Vergleich zu seinen Zeitgenossen Händel und Telemann jedoch eher wenig. Zum einen liegt das daran, dass er stets ortsgebunden angestellt war, denn viele der damaligen Musikerreisen waren mit Gastspielen verbunden. J.S. Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel kommentierte das Thema folgendermaßen: „Wegen seiner vielfältigen Verpflichtungen hatte er keine Zeit zu verreisen...“. Abgesehen von ein paar Ausreißern wie Gera und Kassel verreiste er in seiner Leipziger Zeit lediglich im Umkreis von etwa 150 km. 1742 jedoch entschuldigte er sich in einem Brief an den Bürgermeister von Salzwedel für die späte Antwort mit der Begründung, er habe eine sechswöchige Reise unternommen. Das Ziel seiner Reise kennen wir leider nicht. Wir wissen nur, dass er in den 1740er Jahren mehrfach nach Dresden, Berlin und Potsdam reiste. Diese Reisen stehen auch in Zusammenhang mit seiner zunehmenden Unzufriedenheit über seine Arbeitsbedingungen in Leipzig. Wenn er verreist ist, dann hatte das mit seinen umfassenden Fähigkeiten als Orgelexperte zu tun: Immer wieder wurde er von Kirchen zu Orgelprüfungen bestellt. Unter anderem prüfte er die heute noch komplett erhaltenen Orgeln Zacharias Hildebrandts in Störmthal bei Leipzig, in Sangerhausen und in Naumburg und testete die Qualität von Orgeln in Altenburg, Halle, Lüneburg und Zschortau, sowie der heute nur noch teilweise erhaltenen Instrumente in Arnstadt, Eisenach, Hamburg und Gotha und viele mehr. Die Störmthaler Orgel lobte Bach über alle Maßen: Im Kirchenrechnungsbuch von 1723 ist zu lesen, Bach habe sie „übernommen, examinieret, probieret, auch vor tüchtig und beständig erkannt“ und sie sei von ihm „gerühmet worden“. Auch die 1945 zerstörte Silbermann-Orgel in der Dresdner Frauenkirche und diejenige in der Sophienkirche prüfte er. Bei diesen Gelegenheiten ließ Bach es sich gerne richtig gut gehen.


Der Orgelsachverständige und Organist Markus Zepf stellte in seiner Funktion als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bach-Archivs eine Liste der von Bach gespielten Orgeln zusammen, eine Liste, die durch die laufenden Forschungen ständig erweitert wird. In den letzten zehn Jahren sind die Wissenschaftler aus Leipzig auf drei neue Orgeln aufmerksam geworden. Gemeinsam mit Christoph Wolff, emeritiertem Professor der Harvard Universität und von 2001 bis 2014 Direktor des Bach-Archivs Leipzig, veröffentlichte Zepf ein Handbuch zu Bachs Orgeln. Der aktuelle Stand liegt bei 59, wobei Bach manche Instrumente mehrfach unter die Lupe nahm und spielte. Wir wissen von zehn bis fünfzehn Orgelprüfungen. Auf solche teuren Gutachten legten die Städte nur Wert, wenn sie viel für den Bau ausgegeben hatten. Umbauten, zu denen Bach eingeladen wurde, glichen daher auch meist eher Neubauten. Was früher Usus war, lief auch nach Bach so weiter, und so sind bei vielen der von ihm gespielten Orgeln heute nur noch das Gehäuse oder der Spieltisch und manchmal einzelne Pfeifen original.


Bei zwei Orgelprüfungen sind die Abrechnungsbögen erhalten, und nun wird es wirklich spannend. Die Orgelprüfer sollten schließlich so gut wie möglich behandelt werden mit dem Ziel, dass diese die neue Orgel möglichst hart bewerten würden, um so den armen Orgelbauer im Preis zu drücken. Bach war zu einer dreitägigen Prüfung der Christoph Cuncius-Orgel in der Hallenser Liebfrauenkirche eingeladen – es ist bis heute ein wahres Meisterinstrument, das sämtliche Organistenträume erfüllt. Nach der Abnahme beugte sich der Koch über die Töpfe und tafelte auf: „Vor Speisung deß hochlöbl: Collegii der Kirchen (…) bei der Invistitur der neue orgel: 1 Stück Bäffalemote (=Bœuf à la mode), hechte mit einer Sartelle b(l)eu, 1 gereuchert schinken, 1 Aschette mit Erbißen (=Assiette mit Erbesen), 1 Aschette mit Erteffeln (=Erdäpfeln), Eingemachte Kirschen, Warmer Spargel Saladt, Kopf Saladt, Frische Butter“. Kostenpunkt: 11 Thaler und 12 Groschen. Für Halle hat man eine mehrere Seiten umfassende Liste der konsumierten Speisen. Anhand solcher Quittungen entsteht leicht der Eindruck, Bach hätte geradezu exzessiv geschlemmt, dabei handelte es sich um große Festmahle mit weiteren Organisten sowie den Stadträten.


Im Grunde genommen aber ist es fast ein Wunder – oder spricht vielmehr für den unverbrüchlichen Respekt vor Bach, dass er überhaupt zu dieser Orgelprüfung eingeladen wurde, denn drei Jahre zuvor ließ er es sich hier als Orgelexperte auf Kosten der Kirche eine beträchtliche Zeit lang gut gehen: „14 Tagen biß 3 Wochen“ logierte er im exquisiten Gasthof „Zum goldenen Ring“ und schrieb einiges für „bir“, „brande Wein“ und „dabak“ an. Der Aufenthalt endete im Fiasko für Halle, weil Bach vom „Kirchen-Collegium“ zum neuen Organisten gewählt wurde, zusagte – es sich zurück in Weimar aber anders überlegte und den Kurier mit der doppelten Ausführung seines Vertrages eiskalt abblitzen ließ. Der Grund dafür: In Weimar wurde ihm zwischenzeitlich ein höheres Salär angeboten. Das Hin und Her zwischen Halle und Weimar konnte daher als Pokerspiel gedeutet werden. Weitere Bachsche Quittungen entdeckte Michael Maul vor einiger Zeit im Geraer Pfarrarchiv. Drei bis vier Tage lang dauerte 1725 die Prüfung zu St. Johannis. Diverse Kannen Bier und Tobak versüßten den Aufenthalt, zudem rechnete er reichlich Rhein- und Moselwein ab. Er war eben ein ganz Großer, natürlich in der Musik, aber auch in der Geschäftstüchtigkeit und im Genießen. Ein echter Lebemann.


Tabak, Bier, Wein und Kantaten, köstliche Schmausereien und überwältigende Musikwerke, Passionen, Oratorien, Partiten, lebendige Kontakte und gelegentlich ein Absacker: Wenn jemand die Phrase „Work hard, play hard“ jemals wirklich ausfüllte, dann muss das Johann Sebastian Bach gewesen sein.


© Sara Tröster Klemm, 2020





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