Jobcenter – Versuch einer Anthropologie der modernen Berufswelt
Der Sohn übernimmt das Geschäft? Die Tochter heiratet? So einfach ist es schon lange nicht mehr! In Zeiten von Fachkräftemangel, Demographie- und Klimawandel weiß der Berufseinsteiger von heute oftmals nicht mehr, wo es einmal hingehen soll. Nicht jeder kann Popstar oder Plagiator*in werden. Deshalb haben wir es uns zum Ziel gesetzt, Alternativen aufzuzeigen. Wir haben uns mit Vertretern der verschiedenen Berufsgruppen unterhalten, vom Fitnesstrainer bis hin zum Friseur. Bei uns kommen sie unzensiert, ungeschönt und nicht ganz ernst zu nehmend zu Wort. Ja! so ist es und nicht anders!
Heute: Der Theaterschauspieler
Und was machen Sie tagsüber? Die Diskussion beim wöchentlichen Publikumsgespräch nimmt wie gewohnt die immer gleiche Wendung: Egal, ob ich Macbeth oder den Tempelherrn gebe, die Zuschauer interessiert am Ende doch immer nur mein Privatleben. Wenn jetzt nicht als nächstes die Frage „Und, wie merken Sie sich den ganzen Text? Ist das nicht sehr schwer?“ kommt, dann werde ich mir die Kleider vom Leib fetzen und einen Nackttanz in den rotsamtenen Zuschauerreihen improvisieren. Wie von Sinnen werde ich tanzen, fliegen, kreiseln. Aber keine Sorge, das wird nicht passieren, denn, dass diese Frage kommt, ist so sicher wie die Nikotinsucht des Intendanten. Dass die Bühnentechniker locker mal das Doppelte von mir verdienen, interessiert wiederum niemanden. Warum eigentlich nicht? Was ich nun also tagsüber mache. Ich schlafe erst mal aus. So gegen elf klingelt mein Wecker. Dann rauche ich – noch im Bett – meine erste Zigarre. Dabei brenne ich meistens ein Loch in die Decke. Die zweite dann auf dem Balkon, zusammen mit einem schwarzen Kaffee. Geduscht habe ich gestern Abend noch nach der Vorstellung im Theater – so einfach senke ich meine Nebenkosten – , Duschen entfällt also schon einmal. Wieder Zeit gespart. Meine Kollegin Kraulich ruft an. Sie will den Text für die heutige Abendvorstellung durchgehen, ob ich Lust hätte. Sie bringe Brötchen zum Frühstück mit. Ob so gegen 12.30 Uhr angenehm sei? Das heißt, sie wird nach 13 Uhr klingeln. Ich weiß es noch nicht so recht. Sie hat diese starke Geruchsbildung und scheint sich gegen die Diktatur des Deodoranten zu wehren. Ihr Mann ist arbeitslos und impotent, das weiß ich zufälligerweise von unserer hochgeschätzten Regieassistentin Krüger. Die Krüger ist 58. Bis vor einem Jahr noch war sie Ensemblemitglied, aber der Chef steht nicht so auf subalterne Kollegen, die bereits vor SEINER Inthronisation eine unkündbare Festanstellung errungen haben. Also versetzt er sie, so weit es ihm sein kreatives Human Resources Management erlaubt, nach unten. Gestern noch Schauspieler, heute schon Garderobiere, so die oberste Philosophie des Hauses. Natürlich nur intern. Nach außen wird die grenzenlose Transparenz, Durchlässigkeit und Wirtschaftlichkeit propagiert: Wie jedes Jahr seit seiner Vertragsunterzeichnung vor sechs Jahren, haben wir die Zuschauerzahlen verdoppelt. Bei gleichbleibender Platzkapazität und sinkender Ensemblezahl, wohlgemerkt. Das muss man erst mal schaffen. Ja, gut, komm ruhig vorbei, sage ich zur Kraulich. Ich stelle schon mal die Getränke kalt. Ja! So und nicht anders ist es!
Fotos: Medien von Wix
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