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AutorenbildSara Tröster Klemm

Milaja Moja und die Sirenen (Moskau)

Aktualisiert: 4. Dez. 2021


Der Mond, milchweiß steigt er über dem Kreml auf und atemlos streift Vadim an der Basilius-Kathedrale vorbei. Über die Nikolskaja Uliza will er ins GUM. Er ist etwas nervös, muss sich beeilen. Seine Frau mit den beiden Kindern wartet zuhause auf ihn, er kommt von der Arbeit, und seine Geliebte ist ungeduldig. Er kann sie nicht warten lassen, will es auch nicht, denn es ist seine Auszeit vom Alltag mit dem launischen Intendanten, den unfähigen Regisseuren und Kollegen und dem stets überquellenden Windeleimer zuhause. Den blankliegenden Nerven Viktorias. Früher keifte sie nie so herum. Er versteht es nicht. Was mit ihr los ist. Jetzt braucht er auf jeden Fall erst einmal eine kleine Entspannung. Natalja wartet schon. Sie bekommt neue Ohrringe von Swarowski und ein Kettchen aus dem legendären Warenhaus, danach gehen sie Sushi essen, denn sie hat heute Geburtstag. Sie sind nun schon ein Jahr lang ein Paar und lieben sich von ganzem Herzen. Aber die Verantwortung als Familienvater drückt ihn. Seine Frau mit den beiden Kindern würde er niemals für eine andere im Stich lassen. Noch unerträglicher aber ist für ihn nur der Gedanke daran, sie könne sich mit jemand anderem als ihm vergnügen. Zu einer Bluttat würde es führen, da ist er sich sicher.

Natalja sieht wunderbar aus, wie sie da steht, lasziv an das gußeiserne Geländer gelehnt, venusgleich fließen die langen blonden Haare über ihre weichen Schultern. Sie kommt vom Friseur. Sie sieht ausgeruht aus. Bis vor kurzem hat sie an seinem Theater als Regisseurin gearbeitet. Die einzig Fähige, da haben sie sich verliebt. Vika war zu diesem Zeitpunkt mit den Kindern vier Wochen zur Kur am Meer. Wegen der Erschöpfung und der Hysterie. Was sie sich dabei gedacht hat. Er weiß es nicht. Natalja! Sie lächelt. Er gibt ihr einen sachten Kuss auf die Wange. Sie bekommt ihr Geschenk. Nach dem Essen eilt er zur Tiefgarage, 22 Uhr! Er muss sich beeilen, denn die Nerven seiner Frau sind nicht aus Stahl. Beziehungsweise, sie sind schon aus Stahl, aber jedenfalls nicht aus rostfreiem. Sie sind rostig, genau! Bei der kleinesten Verspätung schaut sie vorwurfsvoll. Was sie immer hat! Er versteht es nicht. Und dann immer diese Unordnung. Ob sie denkt, dass ihm das gefallen würde, die Krümel unter dem Tisch! Die Flecken auf dem Boden! Die Wäsche, die in der schäbigen Plattenbauwohnung drinnen trocknet, trocknen soll. Zwischen denen sich Kakerlaken tummeln. Er fragt sich ernsthaft, warum sie die Wäsche nicht auf dem Balkon trocknen kann – so hat es zumindest seine Mutter immer gemacht. Im Garten, unter dem Pflaumenbaum, im Frühling, wenn die Bäume wieder ausschlagen und alles blüht. Die Sonne schien. So war das früher, und das war besser.

Viktoria ist anders. Anders als seine Mutter. Und anders als Natalja. Auch anders als Katinka, Darja und Olga. Ach, es sind nur Namen! Nur Frauen. In seinem Kopf verschmelzen sie alle zu einem einzigen weiblichen Körper, zu einer einzigen Frau. Sie sind doch alle gleich. Er kann sie nicht mehr auseinanderhalten, weswegen er sie nur immer mit Milaja Moja oder Ljubimaja anspricht. Sicher ist sicher. Daragaja, hört er sich jetzt zärtlich in Nataljas Ohr flüstern. Ich muss! Am Wochenende sehen wir uns wieder. Viktoria, du weißt, ich habe es dir gesagt, fährt mit ihrem Dewuschka auf unserer Datsche, weil sie der Meinung ist, wir hätten am Samstag Probe und am Sonntagnachmittag eine Privatvorstellung, die aus diesem Grund nicht im Programm steht, und sie deshalb wie immer über das Wochenende alleine sein muss. Ach wo! Sie hat die Kinder, den Dewuschka, und ihre Freundinnen. Alleine ist sie nicht, njet. Deshalb, Daragaja Ljubimaja, du weißt, wie sehr ich dich liebe, musst du dich gedulden. Für eine halbe Stunde reicht es aber noch, mein Schatz. Nein, im Auto, das geht nicht!

Die Autotür seines Wolgas fliegt zu und sie rasen zum nächsten Hotel. Es geht ganz schnell. Er duscht, bezahlt die Rechnung, und ist zwanzig Minuten später schon bei seiner lieben Vikuscha. Wie immer in letzter Zeit hat sie schlechte Laune. Warum? Er versteht es nicht. Er jedenfalls ist entspannt. Und frisch geduscht, duftend, ein gepflegter, attraktiver Mann, hat schon wieder Lust. Aber Vicky nicht. Selbst schuld. Sie weiß gar nicht, was sie an ihm hat! Sie nörgelt ja nur rum. Dass das Konto von Monat zu Monat einen Tag früher leergeräumt ist, und dass sie mehr Geld brauchen. Warum er denn nicht zu seinem Intendanten gehe und um eine Gehaltserhöhung bittet. Ja sind wir denn bei Wünschdirwas. Und ob er nicht einen Urlaubsschein einreichen könnte, damit er am Wochenende mit auf die Datsche kann. Gehts noch?! Sie sei ja immer nur alleine mit den Kindern. Ihr falle die Decke auf den Kopf. Hat sie noch alle Tassen im Schrank?! Wie sie sich das denn vorstellt. Sie solle lieber mal selbst Geld verdienen, dann sehe sie, wie hart das Leben sei. Er müsse doch das ganze Wochenende arbeiten, das habe er ihr ja schon tausendmal erklärt! Wie oft denn noch! Dann bleibe sie eben das Wochenende hier, und sie würden sich Sushi bestellen, das liebe er ja so, und sie können ja abends nicht ausgehen, weil das Geld für den Babysitter nicht reicht, und Dewuschka nicht aufpassen kann, aber einmal Sushi müsste ausnahmsweise drinliegen. Er lenkt ab. Die frische Landluft! Der Garten muss gepflegt werden, gegossen, gejätet. Sei besser für die Kinder, als dieser verpestete Smog hier in der Stoliza. Er tue ja alles, was in seinen Möglichkeiten stehe, aber er sei halt nun einmal nur ein einfacher Theaterschauspieler, nicht Brad Pitt. Er dusche nach der Probe schon extra im Theater, um Wasser zu sparen, und so die Nebenkosten niedriger zu halten. Sie solle gefälligst einmal erst bei sich selbt anfangen und ordentlicher werden, ihren Hausfrauenpflichten nachkommen, und dann könnten sie weitersehen! Hier sind schon wieder überall Krümel auf dem Fußboden. Das Geschirr steht rum. Die Wäsche hängt. Und aus dem Bad dringt ein unangenehm säuerlicher Geruch mit einem Hauch Amoniak. Was ist das?

Ein unsicher wimmerndes, leise muckerndes, zaghaft quietschendes, schnarrendes, dann sirenenhaft zu ohrenbetäubendem Lärm anschwellendes Gebrüll unterbricht jäh das Gespräch, das ohnehin unangenehm zu verlaufen drohte und von unerträglichen gegenseitigen Vorwürfen und Vorhaltungen („Du bist schuld!“) geprägt war. Geh du mal und schau nach!

Vika, hat sie eine Meise? Er kommt von der Arbeit! Es ist nun sicher nicht seine Aufgabe als Mann, ein Kleinkind zu beruhigen, womöglich auch noch zu wickeln. Er ist doch der Hauptverdiener und braucht seinen wohlverdienten Feierabend. Er öffnet den Kühlschrank, aber es ist schon wieder kein kaltes Bier drin. Er muss sich mit einem lauwarmen Zimmertemperaturbier abfinden. Seine Laune verschlechtert sich. Die Entspannung schleicht dahin. Wo ist verdammt noch einmal der Flaschenöffner. Vika soll mal schön selbst gehen. Ich mache das schon den ganzen Tag! Ich kann nicht mehr! Ich brauche eine Pause! Bitte! Sonst wacht das Baby auch noch auf! Zu spät, schon passiert.

Zwei Sirenen gleichzeitig haben angeschlagen, Rauch quillt aus seinen Ohren und Nasenlöchern, die Sprinkleranlage springt an, die Wohnung steht unter Wasser, die Feuerwehr rast über den morschen Asphalt, die Nachbarn klopfen wild, hemmungslos, rabiat, gewalttätig und aggressiv gegen die Wohnungstür, schreien Ruhe!, er schiebt den zweiten den dritten und auch den vierten Riegel ins Schloss und dreht zweimal um, und schließt dann auch noch die zweite Sicherheitstür, die sich hinter der ersten befindet, während das Wasser nach unten durch den Boden sickert, es verursacht einen Wasserschaden, während der Rauch weiterhin aus all seinen Körperöffnungen quillt, er kann einfach nichts dagegen tun, eine Feuerwalze bricht sich durch seinen Kiefer, und seine Zähne, er beisst sie hart zusammen, damit keine Feuerflammen aus seinem Mund schlagen und alles noch viel schlimmer machen. Vika und die Kinder husten von dem sich ausbreitenden Rauch. Mit seinen Händen tastet er blind nach dem Flaschenöffner und nimmt einen kräftigen Schluck. Dann öffnet er ein Fenster. Frische Nachtluft strömt herein. Sie atmen auf.

Immerhin hat die Situation den offenkundigen Vorteil, dass nun beide Elternteile gefordert sind. Vikuscha wickelt das Baby und legt es an die Brust, bis es wieder schläft, während er liebevoll die anderthalbjährige „Große“ beruhigt, indem er ihr eine warme Honigmilch einflößt und ein zärtliches Gutenachtlied ins Ohr summt. Oh, wie sie riecht. Wie ein saftiger, reifer Apfel. Wie Lebkuchen. Wie eine Holunderblüte im Frühsommer, wie eine Wildrose, über die sachte eine Biene kreist, Nektar saugend, eine aufbrechende Blüte. Wie ein honigtrunkenes, sattes, zufriedenes, nach süßer weißer Milch duftendes, blondlockiges Kleinkind, ein Schatz, ein Engel, ein glänzendes, reines, unberührtes, unschuldiges Goldstück. Endlich herrscht Ruhe.

Nach qualvollen Stunden und Minuten menschlichen Elendes. Vikuscha und die kleinen, süßen Babies schlafen selig, endlich selig. So könnte es immer sein. Diese paradiesische Ruhe. Er schaut auf ihre Gesichter. So friedlich. So lieblich. Er liebt sie wirklich. Seine Familie! Sein ganzer Stolz. Die Mutter seiner Töchter! Mit ihrem langen, walnussbraunen Haar, den stahlblauen Augen, in dieser seltenen Kombination! Mit der kleinen, geraden Nase, von der sie findet, dass sie nur von der rechten Seite ansehnlich sei, was aber nicht stimmt, denn sie ist von beiden Seiten her wunderschön und gerade, und der zugleich festen als auch weichen Haut – sie ist nicht nur wundervoll, zart, schön, nein! Sie ist auch von einer exquisiten Intelligenz, einfallsreich, eine ambitionierte Musikerin – da es zur Virtuosin nicht reichte, das einzige Ziel, für das es sich gelohnt hätte, die Qualen und Risiken des Musikstudiums auf sich zu nehmen, verfolgte sie das Violinspiel nur mehr als Liebhaberin weiter. Vikuscha, Milaja Moja, ist literarisch, künstlerisch interessiert, weltgewandt, eine grandiose Geliebte, nur seit einigen Monaten läuft es nicht mehr so gut. Schlampig und launisch ist sie geworden. In der Küche steht eine Schüssel Pelmeni. Er greift zu, tunkt die Teigtaschen in die bereitstehende Smetana. Bei der Gelegenheit fallen ihm schon wieder all diese störenden Elemente auf. Die Krümel am Boden. Dass Viktoria das nicht stört, er begreift es nicht. Warum sie die nicht wegwischt. Das dauert keine fünf Minuten, soviel Zeit müsste eigentlich sein.

Er hatte es sich ehrlich gesagt anders vorgestellt, die Ehe. Harmonischer. Aufgeräumter. Sauberer. Leidenschaftlicher. Ihn packt auf einmal wieder diese Wut, eine unfassbare, nach allen Seiten hin ausbrechenwollende Wut. Wie ein omnivernichtender, mörderischer Vulkan. Internecivus.

Es ist Vollmond. In zwei Stunden prangt eine totale Mondfinsternis, ein Superblutmond und Erntemond am Himmel – alles in einem. Manche faseln wie immer von Apokalypse, aber das ist Idiotism. Slaboumije. Er wird noch einmal auf die Krasnaja Ploschad, den Roten Platz fahren und dort in der Menschenmenge das einzigartige Naturschauspiel beobachten, die Kraft und Energie des russischen Volkes in sich aufsaugen, jahrtausendealte Kultur einatmen, einsaugen und dabei gleichzeitig sehen, wie sich langsam der Erdschatten vor den Mond schiebt. Davor nimmt er sich noch ein paar Minuten Zeit, hier zuhause ein wenig Ordnung hineinzubringen, denn er will trotz allen Hindernissen ein moderner Mann und vorbildlicher Familienvater sein.

Er fängt mit dem schmutzigen Geschirr an. Vika hat es achtlos in der Spüle stehen gelassen, anstatt es korrekt in die Spülmaschine einzuräumen. Dabei sind das nur ein paar kleine Handgriffe. Er stellt alles sorgfältig hinein. Erst das Besteck, die Teller und zum Schluss die Gläser, die er zuvor noch ausschütten muss. Am Rand der blauen Tasse ist ein kleines Stück herausgebrochen und ein langer Riss zieht sich durch das Porzellan. Vika hätte sie entsorgen können. Warum lässt sie sie dennoch stehen? Er lässt die Tasse provokativ stehen. Viktoria muss auch mal etwas selbst hinkriegen und Verantwortung übernehmen, anstatt sich immer auf seine Kosten in dem Chaos zuhause auszuruhen. Es ärgert ihn auch ein wenig, dass doch einiges bereits falsch eingeräumt ist, sodass er die Sachen wieder aus- und umräumen muss, bevor er das neue Geschirr einräumen kann. Dadurch verliert er wertvolle Zeit. Und in zwei Stunden beginnt die Supermondfinsternis. Ein paar Sonnenstrahlen werden sich an der Erdkugel vorbeischmuggeln und den Mond glutrot erleuchten lassen. Als nächstes nimmt er sich die Wäsche vor. Legt die Unterhosen sorgfältig zusammen, streicht sie glatt, dann die Socken, die Unterhemden, die langen Unterhosen, und ganz zum Schluss Viktorias und seine T-Shirts. Aber Viktoria hat leider schon wieder zu wenig Waschpulver genommen, außerdem vom falschen, weshalb die Wäsche nicht so frisch, wie bei Lilja, Oxana oder auch Anastasja riecht. Die Windeltücher überlässt er ihr, sie soll auch mal etwas zum Haushalt beitragen, schließlich kann sie ja schon den ganzen Tag zu Hause sein, Kaffee trinken wann sie will und mit den süßen Babys herumtollen. Warum ist sie nur immer so müde und erschöpft in letzter Zeit? Keine Ahnung. Nun knurrt ihm aber schon wieder der Magen. Bevor er endlich noch einmal losgehen wird, will er sich noch ein Stückchen Sir, Käse abschneiden und ein Brot damit belegen. Das wird er unterwegs gemütlich im Wolga essen, und später mit ein zwei drei vier Gläschen Wodka herunterspülen.

Er nimmt ein Küchenmesser, aber es ist so stumpf, dass er es erst noch schleifen muss. Er wetzt es, bis es richtig scharf ist. Dann schneidet er Viktoria die Kehle auf. Das Blut quillt stärker und schneller. Dann nimmt er erst die Große, dann die Kleine, und wirft sie vom Balkon aus dem 13. Stock. Sie schlafen und fallen still und lautlos in die kühlschwarze Nachtluft hinein. Ein dumpfer Aufprall auf dem Betonpflaster. Dann noch einer. Es ist immer noch ganz still. Dann zieht er sich um. Milaja Maja, es wäre so ruhig, wenn die Sirenen nicht wären. Blutrot steigt der Mond über dem Kreml auf, der blutige Supermond, der während der Finsternis durch einen hellen Kranz von Sonnenstrahlen rot eingefärbt wird. Warum er das getan hat, seine Familie zerstört, kann er gar nicht so genau in Worte fassen. Es ist eben einfach passiert. Wo die Liebe hinfällt. Und Vikuscha war schließlich auch kein Unschuldslamm. Sie hat sich wirklich sehr zum Negativen hin verändert und trägt damit doch einen Teil der Schuld. Zum Scheitern einer Ehe gehören immer zwei. Für einen Moment spürt er einen unerträglichen inneren Schmerz, als ob der ausbrechende Vulkan Lavablut durch seine Adern schleudere und sie dabei halb schmelzend, halb berstend zerfetze. Aber er verdrängt die Gefühl der Reue so schnell wie möglich, denn es ergibt keinen Sinn und ändert nichts an der Situation.

Er steigt in sein Auto und wird nun Liljenka mit seiner angenehm aufgeräumten, zugewandten Präsenz überraschen. Oder doch lieber Daragaja Daschulja? Er überlegt noch kauend. Das belegte „chleb s sirom“ schmeckt ausgezeichnet. Sie wird sich freuen, ihn in den Arm nehmen, ihn liebkosen, ihn für ein paar Stunden von den leidigen Alltagssorgen befreien und seine feurigen Leidenschaften mit der warmen Decke ihrer Sinnlichkeit löschen, seine brennende Sehnsucht ersticken, bis er sich in dieses grauweiße Häufchen Asche zersetzt, das vom nächsten Windhauch in alle Himmelsrichtungen zerstäubt werden wird und welches nicht einmal den Hauch einer Erinnerung hinterlässt.





Sara Tröster Klemm, 2015

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