Die Avenue des Gobelins entlang, irgendwann in die unvergleichliche, legendäre Rue Mouffetard einbiegend – Paris ist die Stadt, die in ihrem ausgedehnten Zentrum kein einziges Quäntchen Platz für Hässlichkeit, Stillosigkeit und Willkür zulässt. Sie ist bis in die kleinste Raute im Mauerstein, bis in den I-Punkt seiner Ladenschilder, bis in die Messerspitze des savoyischen Käsehändlers durchgestaltet, sie ist merveilleuse, wunderbar, traumhaft, auf Schönheit, Liebe und Zärtlichkeit, auf Spaß und Ästhetik gleichermaßen ausgerichtet – bis ins kleinste Detail. Meine Schritte verlangsamen sich und werden schwer. Auf meiner Facebook-Seite habe ich gerade gepostet, ich sei „fantastisch auf der Avenue des Gobelins“. Marc aus New York hat meinen Beitrag kommentiert mit „Pass auf dich auf.“ Ist ja süß von ihm! Was sollte mir denn passieren, und worauf sollte ich aufpassen? Dass ich nicht einem Sprengstoffgürtelmann in die Arme laufe? Während ich schon wieder gemütlich in meinem Zimmer sitze? Es ist Freitag, der 13. November 2015. Ein Unglückstag. Ein Tag des Terrors und des Todes mitten im Herzen Europas.
In dieser Umgebung sitzen die Menschen. Gemütlich, angeregt plaudernd in den Cafés und Restaurants, sie essen Huîtres, Austern, Crème Brulée, aber sie essen auch libanesisch, iranisch, pakistanisch. Und sie essen kambodschanisch. Nichtsahnend. In einer kleinen Galerie ganz in der Nähe von Notre Dame drängen sich die Besucher so eng, bis hin auf die Straße quetschen sie sich. Es ist eine Vernissage von vielleicht etwas ambitionierteren Laienkünstlern. Jedenfalls haben sie es bis ins Zentrum der Seine-Metropole geschafft, der fraglos schönsten Stadt der Welt. Welche Pracht! Welche Lebensart! Welche Kultiviertheit! Friedlich und sich gegenseitig bereichernd existieren die verschiedensten Kulturen hier nebeneinander. Jeder lebt so, wie es ihm gefällt. Ein Schwerpunkt liegt dabei sicher auf dem Genuss und einer verfeinerten Lebensweise.
Keiner sieht es mir an, aber ich habe eine Zeit des heimischen Terrors erlebt, habe heulend und verzweifelt auf einer winterlichen Parkbank im Schneeregen sitzend mit dem Gedanken gespielt, für ein paar Monate unterzutauchen, von zuhause zu fliehen, wozu gibt es Frauenhäuser? um mich und die Kinder in Sicherheit zu bringen, mich dann aber doch für die Wahrung der bürgerlichen Fassade entschieden. Die Tränen gehören hinter die Wohnungstür. Die Wut, die Trauer und Verzweiflung gehen niemanden etwas an. Könnte sein, dass ich mir das alles ja nur einbilde. Dass ich wirklich alles falsch und nichts richtig mache, wie er sagt. Und sicher wird es auch einen Grund dafür geben, dass er mir androhte, mir alle Zähne auszuschlagen, mir eine Bratpfanne über den Kopf ziehen und meine Arbeit der letzten Jahre zerstören zu wollen. Ich merkte irgendwann überhaupt nicht mehr, wie falsch und krank meine häusliche Welt geworden ist, obwohl mir blaue und grüne Flecken und blutige und eitrige Wunden an meinem Leib erspart und nur der Seele zuteil wurden. Nur der Seele! Wie das schon klingt.
Ich bin sogar überzeugt davon gewesen, dass ich sicherlich Schuld daran trage, dass es überhaupt soweit gekommen ist. Dass ich vor Angst zusammenzucke, wenn ich seinen Schlüssel in der Türe höre und schnell noch einmal die ganze blankpolierte Wohnung mit ihrem penibel gerade gerückten Inventar einem hyperkritischen Blick unterwerfe, ob auch ja alles in Ordnung sei. Kein Krümel, nirgends. Unordnung, das wäre mein sicheres Ende gewesen, so hat er es gesagt. Zuhause verwandelte ich mich in ein verschrecktes Bündel Angst und Panik, während ich nach außen hin stark, sicher, kreativ und klug auftrete und auch so wahrgenommen werde. Eine starke, erfolgreiche, moderne Frau, die das Leben auskostet, und sich danach sehnt, ihr Potential zu entfalten und mit der Welt zu teilen.
Es war ein Terror, der jedem Aussenstehend verborgen bleibt. Er existierte eigens nur für mich. Eine eigens für mich errichtete Tyrannei inmitten der Demokratie. Daraus auszubrechen sind Panzerfäuste und Granaten ungeeignet, aber irgendwie fühlte es sich doch ganz genauso an, und es kommt die Frage auf, wie man sich eigentlich gegen seelische Panzerfäuste wehrt. Was ist zu tun, wenn der angebliche Partner, der einem vertrauteste Mensch auf der Welt, mit einer emotionalen Kalaschnikow auf einen losgeht? Verbale Sprenggürtel anfertigt, die am Ende für die Nachbarn und die Familie alles so aussehen lassen werden, als hätte ich mich ohne Rücksicht einfach so aus heiterem Himmel in die Luft gesprengt, und egoistisch, fatal alles Lebendige um mich herum, meine Familie, gleich mit in den Tod gerissen? Das Gefühl, jahrelang gedemütigt, betrogen und nach allen Regeln der Schauspielkunst belogen worden zu sein, zerfetzt mein Herz. Zerrt mir den Boden unter den Füßen weg. Als würde ein Lavaschlund sich unter mir öffnen und alles verschlingen, verbrennen, vernichten, in sich aufsaugen und niemals mehr preisgeben.
Ich aber wurde mit Bergen von Eis gekühlt; an ein Seil gebunden bin ich dem Schlund entkommen. Es wurde mir von aussen gereicht, und an ihm habe ich mich mit aller Kraft wieder hochgezogen. Ich habe es geschafft, mich aus dem zerstörerischen Sog zu befreien. Zahllose Menschen haben mir dabei geholfen, aus dem Verderben auszubrechen. Sie haben mir zu Trinken gegeben, mir kühlendes Eis auf die Stirn gelegt, mir zugehört und mir gesagt, dass ich aus der Lava hinaus müsse, wenn ich nicht schon viel zu jung zu Asche werden möchte. Wo ich mich an die wohlig brennende, sengende Hitze doch schon fast zu gewöhnen gewillt war. Nein, Asche, das aber wollte ich nicht sein. Ich möchte leben und lieben, Croissants in Paris essen und Prosciutto in Parma, Mehlsuppe in Basel und Bagel in New York. Mich mit Menschen verbinden, offen, angst- und vorurteilsfrei durch die Welt gehen, sie ansehen und betrachten. Mich von nichts erschrecken lassen. Mich nicht einsperren und kleinmachen lassen. Von niemandem.
Jetzt genieße ich meine Freiheit, ma liberté! Vive la France !!! In der Hauptstadt der Lebensart, von Kunst, Kultur und bestem Essen, von Ästhetik rundherum bin ich drei. Innerlich zerfrisst mich die Sehnsucht nach meinem Geliebten, seinem Duft, seinen Händen, seinen stoppeligen Brusthaaren, dem zusammengepressten Mund, den treuherzigen schwarzen Augen. Seit einem Jahr bin ich inzwischen getrennt und ich zähle die Tage bis zur Scheidung (sechsundzwanzig, in Zahlen: 26), dennoch oder gerade deswegen bin ich frisch und heillos verliebt. Er aber wird erst später kommen. Ich vertreibe mir die Zeit bis dahin mit einem Spaziergang durch die Cité. Ich esse ein Crêpes au Nutella, denn etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Über die Île-de-la-Cité, an der großen Kathedrale vorbei, Richtung Hôtel de Ville, dem Rathaus. Irgendetwas aber drängt mich instinktiv und intensiv zurück, nach Hause, schickt mich in die Gegenrichtung, weg von der Rive Gauche. Es ist eigentlich Humbug, in so einer schönen Stadt mehr Zeit als nötig im Hotel zu verbringen, also versuche ich meine warnende innere Kassandra zum Schweigen zu bringen, sie mundtot zu machen. Es gibt schließlich keinen Grund zur Besorgnis. Überall auf dem Bahnhof schon liefen schwerbewaffnete Soldaten herum und sorgten für Sicherheit. Mit einem kleinen Druck auf den Auslöser hätten sie mich erschiessen können. Was für eine absurde, beängstigende Vorstellung. Immer schon dieser mein Hang zur Hysterie! Also lasse ich mir Zeit, entschließe mich aber nichtsdestotrotz für die Rive Droite, die rechte Flussseite. Dort, wo es in dieser Nacht ruhig bleiben wird, aber das erfahre ich erst später. Es ist der 13. November 2015, die Nacht des Terrors in Paris, aber ich kann nur an meinen Geliebten denken. Er vernebelt mir die Sinne.
Ich gehe den ganzen Weg wieder zurück nach Hause, in die Rue de la Reine Blanche. Was für ein Zimmer habe ich da erwischt! Eine Maisonette in der 6. Etage für einen Spottpreis, mit Marmorbad und vier Betten, für mich ganz allein! Ich lasse meine Sachen fallen, klettere die Wendeltreppe hinauf, um aus dem Dachfenster zu lugen, und wieder hinunter, wo die Badewanne mit Schaum vollläuft. Louane singt von der Zukunft und Iggy Pop besingt einen Passagier, während ich die wohlige Wärme in meinen Gliedern hochziehen lasse und mich endlich entspannen kann. Ich steige aus der Wanne und Zaz interpretiert die Piaf. Les Champs-Elysées. Paris, ist ein Traum. Das wird mir jedesmal klar, wenn ich wieder in dieser schönsten der Schönen bin, sei es als Touristin, Studentin, Autorin, Geschäftsfrau oder Geliebte, und manchmal alles zusammen. Ich mache es mir auf dem großen Doppelbett direkt unter der Dachschräge gemütlich, und schlage den Rechner auf. Es soll eine Schießerei gegeben haben. Das ist ja absurd. Bandenkriminalität und dramatische Konflikte gibt es in Frankreich bekanntlich schon lange, und der Frust der vielen arbeitslosen Jugendlichen ist groß. Aber dass sie sich nun an einem friedlichen Freitagabend in der Hauptstadt befeinden müssen, das geht doch etwas zu weit. Gehen sie jetzt etwa wildwestmäßig aufeinander los? Warum?!
Erst um zwei Uhr nachts schreibt er mir, mein Schatz, dass er nun endlich auch in Paris sei, aber dass er nicht durch die Polizeiblockaden komme, und wir uns erst am nächsten Tag sehen werden. Und Marc lässt mich wissen, ich solle die nächsten Tage Menschenmengen und die Metro meiden, mit dem Auto aufs Land fahren, Museum, Fotomesse, Cafés alles tabu. Er muss es wissen, denn er war am 11. September in New York. Ich damals nur im Kino mit meinem Vater, dem ich von der bizarren Geschichte erzähle, die mein damaliger Boss mir berichtet hatte: Dass ein Sportflugzeug sich verirrt habe und aus Versehen ein Hochhaus gerammt hätte. Es ist noch zu früh, um mehr zu wissen, und wir beide sind keine großen Fernsehzuschauer. Ich bleibe in dieser Nacht also drinnen.
Erst am nächsten Morgen schleiche ich mich bang, geschockt, traumatisiert und mit fast schlechtem Gewissen aus dem Hotel und in die Metro. Ich denke und rede wirres Zeug. Wie ich reagieren würde, wenn auf einmal ein Auto vorbeifahren würde, aus dem geschossen wird. Gehetzt schaue ich mich nach geeigneten Verstecken um. Die meisten Bäume sind zu dünn. Schutz vor Kugelhagel gibt es kaum. Die Straßen sind wie leergefegt. Kein Mensch wagt sich nach draußen. Ich beeile mich. Mehrere Metro-Linien sind gesperrt wegen den Attentaten. Meine fährt zum Glück. Eine halbe Stunde später bin ich bei meinem Geliebten. Und als er später das Haus verlassen muss, scherzen wir, ob er auch seinen Sprengstoffgürtel dabei habe, denn er ist Araber. Wir lachen. Ich liebe ihn. Er ist der friedfertigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Uns beiden fehlen die Worte zu dem, was letzte Nacht in Paris geschehen ist. Wir lieben diese Stadt.
Aber in der nächsten Nacht bleibt der Eiffelturm schwarz, anstatt wie sonst hell wie eine Wunderkerze zu funkeln.
Wir frieren an der Seele und schlottern innerlich. Wir retten uns verzweifelt in geschmacklose und unangemessene Witze. Und in die Liebe. Etwas anderes bleibt nicht.
Wir werden uns nicht einschüchtern lassen, sondern Licht und Liebe in die Welt bringen.
Paris ist tot.
Es lebe Paris!
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