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Rezension: Ausstellungskatalog Point of No Return, München 2019


Paul Kaiser, Christoph Tannert, Alfred Weidinger (Hg.); Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst (Ausst.-Kat. Museum der bildenden Künste Leipzig, 23. Juli bis 3. November 2019); München: Hirmer 2019, 440 S., 240 farb. Abb.; ISBN 978-3-7774-3408-7; € 45

Die anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum der bildenden Künste Leipzig (MdbK) erschienene Katalog Point of No Return ist ein Meilenstein in der Rezeption ostdeutscher Kunst. Lange marginalisiert, bot diese Ausstellung „der lange verdrängten Perspektive der ostdeutschen Kunst auf den Mauerfall und die alles umfassende Transformation seit Beginn der 1990er Jahre erstmals einen großen musealen Rahmen“, so schreiben die Herausgeber Paul Kaiser, Christoph Tannert und der damalige Direktor des MdbK, Alfred Weidinger in der Einleitung. (7) Der Kunst- und Kulturwissenschaftler Paul Kaiser hat sich mit zahlreichen wichtigen Publikationen und langer Forschungsarbeit als Experte für Kunst aus Ostdeutschland etabliert. Insbesondere hat er sich mit dem gesamten Kunstsystem der DDR auseinandergesetzt. (8) Christoph Tannert ist aus dem Diskurs zur ostdeutschen Kunst ebenfalls eine nicht wegzudenkende Stimme. Der Kunstwissenschaftler, Kritiker und Kurator hat zahlreiche Texte über ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler verfasst. Seit 2000 ist er der Geschäftsführer und künstlerische Leiter des Künstlerhauses Bethanien. Über ihn ist in der Einleitung zu lesen: er kenne „die Geschehnisse vor und nach ,1989' als ein in vorderster Linie involvierter Akteur mit all ihren Fakten und Artefakten (…) und der zugleich die mit dem Systembruch verbundenen interpretatorischen Ambivalenzen einbrachte.“ (8) Das Trio wird durch Alfred Weidinger komplettiert, welcher sich in bemerkenswerter Weise für die lokale zeitgenössische Kunst in Leipzig stark gemacht hat. Über ihn ist im Katalog zu lesen: „der aus Österreich stammende Museumsdirektor (…), der sich durch sein Amt mit Neugier jener Spezifik der deutsch-deutschen Kunstverhältnisse intensiv nähert, dabei zugleich vorherrschende Tabuisierungen und kanonisierte Vorrangstellungen mit der nötigen Empathie infrage stellt.“ (8) Seit März 2020 leitet der österreichische Kunsthistoriker und Museumsmanager das Oberösterreichische Landesmuseum Linz.


Kurz zur Ausstellung, in welcher „die Spannung zwischen den Positionen (…) als Möglichkeitsraum für einen grenzüberschreitenden Erkenntnisgewinn“ erscheint (8): Vom 23. Juli bis 3. November 2019 kamen Besucher des MdbK in den Genuss einer großen Bandbreite ostdeutscher Kunstwerke von der DDR-Zeit bis heute – von Gudrun Petersdorff, Angela Hampel, Bernhard Heisig und Ralf Kerbach bis zu Eberhard Havekost, Thoralf Knobloch und Helge Leiberg, um nur einige zu nennen. Die schiere Anzahl der gezeigten Künstler ist überwältigend und zeigt, was die ostdeutsche Kunst für ein Schatz ist: den es zu heben und endlich gebührend wertzuschätzen gilt. Der vorliegende Katalog liefert dafür enorm wichtige Grundlagenarbeit. Er beansprucht nicht, einen „feststehenden Kanon“ zu liefern und „nimmt nicht wie etliche Vorgängerausstellungen eine Bewertung allein schon durch verengte Auswahlkriterien vor.“ (8) Viele verdienstvolle Ausstellungen zur Kunst in der DDR seit Ende der 1990er Jahre seien „letztlich auf Teilmilieus der ostdeutschen Künstlerschaft begrenzt“ gewesen. Dies sei dadurch geschehen, dass sie jeweils „konforme oder nonkonforme Entwicklungen in den Blick“ genommen hätten „oder indem sie verschiedene Segmente der Kunstproduktion als unversöhnliche Extrempole“ vorgestellt hätten. (8) Obwohl diese Ausstellungen, ohne konkrete zu nennen, wichtige Meilensteine gewesen seien, sei durch diese „Fixierung auf die Extreme“ die breite Mitte, die Kunst, welche „jenseits der angesprochenen Polarisierung“ entstanden sei, unbeachtet geblieben. (8) Als Protagonisten dieser vielfältigen Kunstlandschaft nennen die Autoren Peter Graf aus Dresden, Erika Stürmer-Alex im Oderbruch, Harald Metzkes in Berlin, die Hallenserin Wasja Götze und die Leipzigerin Doris Ziegler. (9) Die Ausstellung bietet daher ein großes Spektrum künstlerischer Positionen und hat keine Berührungsängste mit Werken von Künstlerinnen und Künstlern, „die manchen als ,Staatskünstler' erscheinen“, die „genauso vertreten [sind] wie Positionen von ,Hiergebliebenen', ,Rebellen und Reformern' oder Werke von ,Dissidenten', welche die DDR zum Mauerfall 1989 bereits hinter sich gelassen hatten. Darüber hinaus sind Arbeiten von Künstlern zu sehen, die zwar noch in der DDR geboren wurden, aber nicht mehr die unmittelbare Akteurserfahrung mit ihren älteren Kollegen [und Kolleginnen] teilen.“ (9) Interessant sei, dass sich heute viele junge Künstlerinnen und Künstler „ganz bewusst in einen Kontext ostdeutscher Kunstproduktion stellen, dabei Fragen von Herkunft, Tradierung von Eigensinn und Mentalität oder auch von Hegemonie und ,Kolonialisierung' aufgreifend.“ (9) Mit dem „Fokus auf die facettenreiche Hinwendung zum Revolutionsereignis“ solle die Ausstellung auch ermöglichen, „die divergierenden Positionen ostdeutscher Kunst in bildnerischen Kontrasten aufzuzeigen, ohne abweichende Vorstellungen von vornherein mit dem Kampfvokabular des deutsch-deutschen Bilderstreites für erledigt zu erklären.“ (9)


Die Herausgeber ermutigen nachdrücklich dazu, sich neugierig, offen und respektvoll mit dieser vielfältigen Kunst zu beschäftigen. Lange Zeit sei der Großteil der DDR-Kunst „unbesehen ins Depot“ verbannt worden und von „Markt, Kunstbetrieb“ und der Öffentlichkeit nicht beachtet worden. Zum Glück sei dieser Verdrängungsprozess inzwischen gestoppt. Viele ostdeutsche und einige westdeutsche Häuser interessierten sich zunehmend dafür. (9) Viel werde nun davon abhängen, „ob diese Neubewertung unter dem Label eines untergegangenen Staates oder aus der Perspektive auf eine produktive Kunstlandschaft erfolgt. Auch aus diesem Grund lehnen wir eine ausschließliche Bindung der im Osten entstandenen Kunst an das politische Projekt des ,Arbeiter-und-Bauern-Staates' DDR als Kennzeichnung ab und sprechen anstatt von ,Kunst in der DDR' lieber von ostdeutscher Kunst.“ (10) Der deutsch-deutsche Bilderstreit sei von vielen Künstlerinnen und Künstlern als „Akt der Deklassierung“ erlebt worden, sei jedoch auch „trotz vieler Skandale und Konflikte zweifellos eine produktive Stellvertreterdebatte für die Problemlagen der Wiedervereinigung“ gewesen. (10)


Mit einer großen Bandbreite verschiedener Autorinnen und Autoren wird das Themenfeld in mehr oder weniger längeren Texten beleuchtet. Schon in der Einführung der Herausgeber wird der Begriff der „Wende“ diskutiert. Die Friedliche Revolution sei „im alltagskulturellen Verständnis auf die nebulöse Formel einer ,Wende' reduziert“ worden und könne „heute mit diesem Terminus als kanonisiert gelten (…). Dies im Übrigen trotz seiner janusköpfigen Semantik, denn ,Wende' war bekanntlich zunächst der Begriff einer sich über den Zeitenwechsel retten wollenden SED-Nomenklatura um den letzten Parteiführer Egon Krenz gewesen.“ (7) Der Frage des Begriffs Wende widmen sich im Verlauf des Buches unter anderem Annette Simon mit Wende? Revolution! (420–423) und Jan Faktor mit dem Text Die rein klanglichen Vorzüge des Wortes WENDE. Ein Dechiffrierungsversuch (430–433).

„Neben der Qualität der einzelnen Werke ist es auch die Vielzahl künstlerischer Handschriften, Kunstmodelle und Denkarten, mit der diese Ausstellung ein einzigartiges Panorama der ostdeutschen Kunst am Thema von ,Wende' und gesellschaftlichem Umbruch entfalten kann.“ (7) Ausgestellt wurden über dreihundert Werke von 106 Künstlerinnen und Künstlern, „die das Phänomen des Untergangs der DDR und der darauffolgenden Passage in eine kapitalistische Gesellschaftsordnung in Aktion und Reflexion kartographieren.“ (7) Leipzig sei „als der symbolische Hauptort der Friedlichen Revolution (…) mit seinem bürger- und künstlernahen Museum der bildenden Künste ein prädestinierter Veranstaltungsraum für dieses ehrgeizige Vorhaben.“ (7), wobei die Frage erlaubt sein muss, ob Leipzig wirklich der „symbolische Hauptort“ war, und nicht einfach das Zentrum der Friedlichen Revolution – schließlich hatten hier die Montagsdemonstrationen ihren Anfang genommen und sind auch hier kulminiert. Ohne die Leipziger Bürgerbewegung wäre der Mauerfall undenkbar gewesen, welchen die Herausgeber als den „sicherlich (…) entscheidenden Point of No Return für die ostdeutschen Biografien und auch für die mit ihm ins Kippen gekommenen Strukturen des Kunstsystems“ bezeichnen. (7) „Wichtige Werke thematisieren den Untergang des sozialistischen Systems folgerichtig vor dem eigentlichen Ereignis – in kühner Antizipation oder als dystopische Imagination.“ (7) Aus diesem Grund wurden in der Ausstellung auch die Vorgeschichte des Mauerfalls einbezogen: „(...) wir können den Beitrag der Künstler an der Entstehung einer nonkonformen Kunstszene ermessen, die den radikalen Ausstieg aus einem nicht länger mehr sinnstiftenden System bereits in der DDR in gegenkulturellen Kreisen und städtischen Szenen vollzogen hatten.“ (8)


Unter anderem steuerte Paul Kaiser die Aufsätze „1989“ und die ostdeutsche Kunst, Die Leipziger Schule zur Zeit der Wende (70) und Kurzexport einer Revolte. Das Festival der DDR-Gegenkultur im Pariser Kulturzentrum La Villette im Januar 1990 (72–74) bei. Christoph Tannert schrieb unter der Überschrift Pflöcke im Niemandsland. Rückblicke auf eine Kunst der Selbstbehauptung in der DDR einen umfangreichen Beitrag über die Entwicklung der Kunst in der DDR – vom sozialistischen Realismus bis zur Etablierung einer lebendigen Gegenkultur. Darüber hinaus beschrieb Tannert den 1. Leipziger Herbstsalon (1984) (66), solitaire factory (1991–2004) (76) und die Ausstellung Intermedia I, Coswig (1985) (68). Die Kunsthistorikerin Gabi Dolff-Bonekämper, Professorin am Institut für Stadt- und Regionalplanung (ISR) der TU Berlin im Fachgebiet Denkmalpflege trug den kurzen Text Sturzlage. Die Stühle vom zentralen Runden Tisch der DDR (78)bei. Der Begriff „Sturzlage“ lehnt sich an einen Fachbegriff der klassischen Archäologie an. Die Stühle waren hoch übereinander gestapelt, verrutscht und mit Spinnweben überzogen. Auch Lyrik und literarische Texte wie Robert Rehfeldts Mail-Art, um 1978, (154) Volker Brauns Werktage 1 Arbeitsbuch 1977–1989 (Auszug) (150–153) und Die verkauften Pflastersteine. Dresdner Tagebuch (Auszug) (160–169) des Dichters Thomas Rosenlöcher wurden abgedruckt. Aus Peter Richters fulminantem Roman 89/90 wurde eine kurze, witzige Anekdote zu Jugendkultur und zum „wichtigsten neuen Wort in den Nachrichten“ (Joint Venture) in Relation zu Joint abgedruckt (424–425), was ein wunderbares Stimmungsbild der Zeit erzeugt. Des Weiteren finden sich Texte von Heiner Müller, Bert Papenfuß, Volker Braun, Durs Grünbein, Kurt Drawert, Lutz Seiler und Oskar Manigk in diesem Werk. Von Diversität kann von dem her schon auf den ersten Blick kaum die Rede sein. Neben Dolff-Bonekämper stammt nur ein einziger weiterer Text von einer Autorin: Wende? Revolution! von der Psychoanalytikerin Annette Simon, während eine große Anzahl von Autoren mit Buchseiten bedacht wurden. So etwas ist in einer Zeit, in welcher allenthalben von Gleichberechtigung gesprochen wird einfach ärgerlich. Das mangelnde Bewusstsein für eine wenigstens angedeutete Parität ist äußerst bedauerlich. Es erscheint gerade so, als gäbe es keine Kunsthistorikerinnen, die sich mit ostdeutscher Kunst auskennen und auch keine ostdeutsch verwurzelten Autorinnen und Literatinnen. Wenigstens sieht es bei den Künstlerinnen und Künstlern etwas besser aus.


Im Folgenden soll auf die einzelnen Textbeiträge eingegangen werden. Den Anfang bildet Paul Kaisers umfangreicher und in Wort und Bild starker Aufsatz ,1989' und die ostdeutsche Kunst. (12–37) In diesem Beitrag geht er zunächst ausführlich auf den Systemwechsel „von einer sozialistischen in eine kapitalistische Wirtschafts- und Institutsionenordnung“, auf die Umbruchszeit von 1989 bis 1993 ein: „Dies war ein Prozess, der für viele Menschen, die im Herbst 1989 auf den Straßen Leipzigs und anderswo erfolgreich über ein Regime mit den Füßen abgestimmt hatten, paradoxerweise bedeutete, schon wenige Monate später, und diesmal nicht als Sieger einer Revolution, sondern als Verlierer der sich im Rekordtempo abwickelnden Privatisierungsprozesse, erneut auf der Straße zu stehen. Einerseits war dies ein dramatischer Sonderfall der Deindustrialisierung in einem traditionell hochindustrialisierten Land, verbunden mit einem Erfahrungsschock von Abwicklung und Deklassierungsängsten.“ (13) Maßgeblich verantwortlich sei, wobei Kaiser hier Friedrich Dieckmann zitiert, die Treuhand gewesen, welche anstatt zu sanieren ganze Industrien des Landes liquidierte und zum Ausverkauf freigab. Die neugegründeten Länder hätten dabei nur minimalen Einfluss gehabt. (14) Was für die Industrie galt, sei auch auf die bildenden Künste zu übertragen. Nach wie vor gelte eine „gesamtdeutsche Einordnung des Kunstschaffens im Osten Deutschlands (…) als ein konfliktreicher Prozess und ein unabgeschlossenes Unterfangen.“ (14) Was bei den Theatern, Orchestern und Opernhäusern gelungen sei, scheiterte in der Kunst. „Das einstige ,Kunstkombinat', wie Eckhart Gillen das DDR-Kunstsystem einmal treffend genannt hatte, wurde stattdessen auf Abriss gestellt und fand seinen Platz nun neben den verfallenden Großbetriebsruinen in den einstigen Kernorten der Schwerindustrie, die wie der realsozialistische Kunstbetrieb zu entvölkerten Lost Places wurden, welche von Fotografen wie Robert Conrad, Bertram Kober und Maix Mayer selbst wiederum zum Material künstlerischer Produktion wurden.“ (14) Von vornherein sei es als gesetzt erschienen, „dass das komplexe und widersprüchliche Phänomen einer weitgehend gewaltfreien Revolution ohne starke politische Opposition (…) mit künstlerischen Mitteln kaum zu erfassen ist.“ (17) Aus diesem Grund sei der Versuch, dies künstlerisch darzustellen, auch durchgehend gescheitert. Weder in einer Reihe von Werken und erst recht nicht in einem einzelnen Kunstwerk erschiene dies machbar. Aus dieser Diagnose leitet Kaiser den Anspruch der Ausstellung ab – nur ein Panorama mit Werken verschiedener Künstlerinnen und Künstler könne „die Dimension des Umbruchs deutlich“ machen, „dem sich die bildenden Künstler als halbdistanzierte Beobachter und zugleich als selbst in die Prozesse verstrickte Akteure zu stellen hatten.“ (17) Zu einem Bildersturm, wie er angesichts des Abrisses eines Lenin-Denkmals in Berlin-Friedrichshain drohte, kam es davon abgesehen glücklicherweise nicht, wie Kaiser im Abschnitt Bildersturm und Rückbesinnung – Transformation Ost bemerkt. (17) Ärger als die sozialistischen Denkmäler habe es viele Wandgemälde an und in öffentlichen Gebäuden getroffen. Viele davon wurden unwiederbringlich zerstört. Hier ist auch der Palast der Republik in Berlin zu nennen. (18) Spätestens ab den 2000er Jahren habe es einen Sinneswandel gegeben. Die Wandgemälde erschienen wieder schützenswert. Viele wurden aufwändig restauriert und wieder aufgebaut. Dieser Prozess sei durch die „internationale Aufwertung der architektonischen .Ost-Moderne' noch verstärkt“ worden. (18) Diesen „fulminanten Wandel“ zeige „sich auch im Umgang mit den bedeutenden Kunstsammlungen im musealen und außermusealen Raum.“ (20) Dies führte dazu, dass „17.000 Kunstwerke im Beeskower Kunstarchiv, darunter 1560 Gemälde, (…) von einem unbeheizten Ort in ein klimatisiertes Gebäude verbracht“ wurden, „und auch die ostdeutschen Kunstmuseen zeigen seit einigen Jahren ihre lange Zeit ins Depot verbannten Bestände an Kunst aus der DDR respektvoll vor.“ (20) Hinzu kämen Privatinitiativen wie etwa jene von Hasso Plattner. Viele Künstlerinnen und Künstler hätten nach der Wende die schmerzvolle Erfahrung der „Nichtkompatibilität“ gemacht, denn einerseits sei „den meisten ostdeutschen Künstlern der Zugang zu den ,freien' Märkten durch das Fehlen von Galerien, regionalen Käufern und dem Wegfall flächendeckender Kunstförderung im Osten weitgehend versperrt, und zweitens geriet sogar ihre Kunst (…) in den Deutungsgefechten des Bilderstreites zum Gegenstand einer stellvertretenden Stigmatisierung.“ (20) Die Annahme, die Zurückweisung habe nur „den ästhetischen Apologeten des alten Systems“ gegolten, weist Kaiser zurück. Stattdessen kritisiert er „die kalte Arroganz einer marktgestützen Herablassung“, welche keinen Unterschied zwischen den beiden Lagern machte. (21) Besonders plakativ sei das 2009 bei der Ausstellung 60 Jahre, 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2009 im Martin-Gropius-Bau zu sehen gewesen: Die Auswahl ist auf die alten Bundesländer beschränkt worden. Auch das Auswahlgremium sei lediglich mit westdeutschen Kuratoren besetzt gewesen, was in Feuilletons und unter Kunstschaffenden zu Recht zu erheblicher Kritik führte. (21) Christoph Hein veröffentlichte in der Zeitung der Freitag einen offenen Brief an die Bundesregierung,in welchem er die Unsichtbarmachung der gesamten Ostkunst anprangert und eine Parallele zur „entarteten Kunst“ zieht: „(...) die Haltung dieser Kunstrichter ist die gleiche, der Wunsch und das Ziel, sie sind deckungsgleich: ausmerzen, ausradieren, verdunsten.“ (22) Die „mit kolonialen Attitüden praktizierte Abwertung ostdeutscher Kunstproduktion“ ließe sich vielfach belegen, so Kaiser weiter, etwa mit dem „Dresdner Bilderstreit“ aus den Jahren 2017/18, „bei dem es um die Abhängung der gesamten ostdeutschen Nachkriegskunst im Dresdner Albertinum ging“. (22) Diese Abwertung habe generell „,Auftrags'- und ,Staatskünstler'“ gleichermaßen getroffen wie die künstlerische Gegenkultur. (22)


Im nächsten Textabschnitt mit der Zwischenüberschrift Risse in der Mauer. Zur Vorgeschichte der Wende geht Kaiser auf den in den 1950er und 60er Jahren in der DDR propagierten Realismus des 19. Jahrhunderts ein, welcher die DDR „zunächst in künstlerischer Hinsicht zu einem Staat des repressiven Historismus“ gemacht hätte. (25) In dieser Zeit wurden Künstler, die den Faden zum Expressionismus oder zur Neuen Sachlichkeit wieder aufnehmen wollten, von der SED-Kulturpolitik missachtet, die klassische Moderne und ihre Avantgarden verdammt. (25) Diese Kunstpolitik habe schwerwiegende Konsequenzen gehabt: „Künstler verloren ihre Lehrstühle, traditionsreiche Kunstinstitute wurden geschlossen, experimentelle Kunstwerke wurden abgehangen oder sogar zerstört.“ (25) Betroffene Künstler mussten wiederum ins innere oder „ins paradoxe deutsch-deutsche Exil“ gehen. (26) All dies konnte jedoch nicht verhindern, dass die Moderne nicht doch Einzug in die Ostkunst fand. In den 1970er und 80er Jahren kam es dann sukzessive zu einer lebendigen Gegenkultur, welche moderne Kunstformen pflegte. Diese nonkonforme und teils auch innoffizielle Kunstszene führte wiederum zu einem „innerostdeutschen Konflikt“: „ein Konflikt zwischen den an der Moderne orientierten Künstlern der Gegenkultur und ihren antimodernen Gegenspielern des Sozialistischen Realismus.“ (26) Diese Gegenkultur fand in Leipzig, Dresden, Berlin und Chemnitz ihren Ausdruck in zahlreichen inoffiziellen Privatgalerien, künstlerischen Zeitschriften- und Buchprojekten, Lesungen und Atelierausstellungen, Werkstätten und Festivals, teils wurden leerstehende Häuser besetzt. (26) Kaiser bringt diese Entwicklungen folgendermaßen auf den Punkt: „Erst die Existenz einer künstlerischen Gegenkultur ermöglichte in den 1970er und 1980er Jahren die lebensweltliche Grundlage, auf der sich dann in der späten DDR politische Initiativen, Gruppen und Programme auszudifferenzieren vermochten.“ (29) Umso bitterer sei es, dass nach 1989 dieser Zusammenhang kaum noch hergestellt worden sei. (29) Die bildenden Künstler stellten sich während der Friedlichen Revolution zwar nicht in die erste Reihe, aber ihr Beitrag darf dennoch nicht unter den Tisch gekehrt werden. Durch das Schaffen von Aktionsräumen und „sozialen Gegenwelten“ hatten sie einen wichtigen Beitrag geleistet.


Abgesehen von wenigen Einzelkünstlern wie Werner Tübke, würden sie als „aus der Zeit gefallen“ abgewertet, als hätten sie „somit ihre kreativen Energien anstatt auf dem Terrain der Nachkriegsavantgarden in einer Sackgasse des regressiven Historismus vergeudet.“ (31) Es sei „die Nichtakzeptanz von Ungleichzeitigkeiten im Innovationskonzept einer globalisierten ,West-Kunst', welche die retrospektive Einordnung einer scheinbar vollends losgelöst von den internationalen Entwicklungen entstandenen Kunst im Osten Deutschlands bislang folgenreich verstellt, wenn nicht sogar auf Dauer verhindern kann.“ (34) All dies erschwere eine neutrale Wertschätzung. (35)


Der zweite Aufsatz dieses Katalogs stammt aus Christoph Tannerts Feder: Pflöcke im Niemandsland. Rückblicke auf eine Kunst der Selbstbehauptung in der DDR (38–64) Zunächst beschreibt er die angespannte Situation in den 1980er Jahren, einer Zeit, in welcher einerseits viele namhafte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur Ausreiseanträge stellten und sich andererseits viele Gruppierungen bildeten, die sich „für mehr Freiheit und Gerechtigkeit, Umweltschutz, Frieden und Menschenrechte einsetzten.“ (39) Dies stand einem sich in Lügen und Phrasen verstrickenden, erstarrten Staat gegenüber, welcher in Schulden zu ersticken drohte. Das gesellschaftliche Klima habe sich zusehends verschlechtert. (39) Künstlerische Opposition sei meist „teilöffentlich, nicht fordernd, sondern klandestin, ästhetisch innovativ, auch provokativ und risikobereit, aber politisch selbstbeschränkt“ gewesen. „Wer nichts zu verlieren hatte, riskierte mehr. Wer Privilegien genoss, wollte diese nicht aufs Spiel setzen.“ (39) Klar ist, dass die Kunstszene „keine Blockpartei“ war, welche „der Staatsmacht geschlossen gegenüberstand. Vielmehr erwies sie sich als ein durch Gegensätzlichkeiten geprägtes Phänomen.“ (40) Im Verlauf des Textes geht er auf verschiedene alternative Kunstprojekte und Künstlergruppen ein, unter anderem auf das „Arbeitskollektiv Tangente“. Dieses realisierte Mal- und Gemeinschaftsaktionen in Leipzig. (43) Immer wieder ging es um die „Aufhebung der Trennung der künstlerischen Disziplinen“, wie spartenübergreifende Projekte unter anderem zwischen dem Maler Hartwig Ebersbach und dem Komponisten Friedrich Schenker eindrücklich beweisen. (43) Was in der DDR kaum möglich war, so Tannert, das seien „kompromissloses Arbeiten (…) für kritisch gegenüber dem Regime eingestellte Künstler und Künstlerinnen“ gewesen. „Wer Ziele und Vorstellungen hatte, die nicht kompatibel waren mit der Orientierung der Funktionäre, konnte einpacken. Auch verwitzeltes, eher konventionelles Lachmaterial, dadaistische und Nonsens-Auftritte hatten es schwer.“ (47) Ging es nach der SED-Kulturpolitik, so sollten Kunstwerke „entweder den politischen Kurs der Partei illustrieren oder besser noch: preisen, den Westen oder den Kapitalismus/Imperialismus kritisieren, nützlich sein wie eine Volksbildungs- oder Lenkungsmaßnahme oder als konstruktives, geometrisches, ornamentales, (…) schmückendes Beiwerk in Erscheinung treten.“ (47) Tannert zeigt die Schranken auf, welche den Künstlerinnen und Künstlern der DDR den Weg wiesen – und fast jeglichen Freiraum raubten, somit auch Experimente und Grenzüberschreitungen verhinderten. (47) Seit den 1970ern hatte „die Parteiführung verstanden, dass sie die Kunstproduktion zwar reglementieren, aber zugleich Ausstellungsforen zur Verfügung stellen musste, um die Akzeptanz der Künstler nicht gänzlich zu verlieren“. (53) Ab diesem Zeitpunkt entstanden um die 450 Galerien des Kulturbundes, sowie „viele kleine kommunale, sogenannte Stadtbezirksgalerien“. (53) Besonders hervorzuheben, so Tannert, seien die Dresdner Galerie Nord, die Galerie Mitte unter Gabriele Muschter und später unter Karin Weber, sowie die Leipziger Galerie Nord. (53) Anschließend beschreibt Tannert verschiedene subversive, von Eberhard Göschel initiierte Kunstaktionen und Initiativen, von der Aktion Grüner Wald (54) über die Dresdner Obergrabenpresse mit unter anderem A.R. Penck, bis zum Frühstück im Freien. (55) An letzterer beteiligten sich mit Rekurs auf den Salon des Refusés von den überregionalen Kunstausstellungen der DDR abgewiesene oder ignorierte Künstlerinnen und Künstler. Viele von ihnen reisten im Anschluss daran aus der DDR aus und der Ausstellungsraum wurde auf lange Zeit „wegen Renovierung“ geschlossen. (56) Die Gründung der Galerie Eigen+Art in Leipzig durch Judy Lybke 1985 markiert eine historische Zäsur in der Geschichte der Leipziger Kunst, weil sie, so Tannert, mit der Leipziger Schule brach. „Leipzig hatte von da an einen Schauraum, in dem alles das, was bis dahin Leipziger Schule war, keine Würdigung erfuhr.“ (56) Und weiter: „Lybke stellte ganz bewusst das Anti-Narrative aus: den wild herausgepowerten Gefühlsstau und einen Ost-Punk, der Bildkritik, also formale Neuansätze ebenso einschloss wie subjektive Frechheiten.“ (58) Darauf folgend schreibt Tannert über die Auto-Perforations-Artisten (58) In der Wendezeit zeigte Frankreich im Gegensatz zu Westdeutschland großes Interesse und lud – organisiert von Christoph Tannert – 200 DDR-Künstler und Künstlerinnen zur dreitägigen Veranstaltung L' autre Allemagne hors les murs nach Paris ein. (59, 72) Tannert bekundet sein Bedauern über die Tatsache, dass bis heute die meisten Künstlerinnen und Künstler aus dem Osten kaum wahrgenommen und gewürdigt werden. (64)


Im Anschluss an den Textteil werden die Künstlerinnen und Künstler und deren Werke, ergänzt durch literarische Einschübe, mit kurzen Texten einzeln vorgestellt, darunter Henri Deparde (100), Hubertus Giebe (132), Frenzy Höhne (204), Peggy Meinfelder (268), Gudrun Petersdorff (290), Cornelia Schleime (344) und Doris Ziegler (412).


Wirklich bedauerlich und überhaupt nicht nachvollziehbar ist, weshalb aus dieser opulenten Schau keine Wanderausstellung wurde. Point of No Return wurde lediglich im MdbK Leipzig und in keinem anderen deutschen oder internationalen Museum gezeigt. Eine internationale Kontextualisierung der Ostkunst sucht man in diesem Katalog leider auch vergeblich. Wieso leider? Die Kunst wird hier weitestgehend aus sich selbst heraus, selbstreferentiell und aus der besonderen historischen Situation heraus erklärt. Um ihre kunsthistorische Relevanz zu belegen, wäre es in der Zukunft jedoch essenziell wichtig, sie in einen größeren historischen und künstlerisch internationalen Zusammenhang zu stellen. Dies gilt insbesondere für die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler. Eine Abgrenzung nach dem Maßstab „ostdeutsch“ kann hier nicht mehr gelten und wirkt artifiziell. Eine stärkere Bezugnahme der Texte auch die Abbildungen wäre wünschenswert gewesen. Ansonsten ist es alles in allem ein aufwändig gestalteter Ausstellungskatalog, welcher einen eminenten Baustein für die Rezeption und Würdigung der Ostkunst darstellt. Er führt die ganze Bandbreite von experimenteller Aktionskunst, Performance bis Malerei und Grafik vor Augen und stellt eine wunderbare Verbindung zum literarischen Schaffen jener Zeit her. Paul Kaiser, Christoph Tannert und Alfred Weidinger haben damit einen unverzichtbaren, nicht wegzudenkenden Beitrag für die kunsthistorische Aufarbeitung der Kunst im Osten Deutschlands geleistet. Nun gilt es, den Nimbus des regional Besetzten aufzubrechen und diesem fantastischen Kunstschaffen endlich die Würdigung zuteil werden zu lassen, welche es verdient.


Sara Tröster Klemm

Leipzig



Diese Rezension erschien im Journal of Art History. The International Periodical of Reviews, hg. von Birgit Ulrike Münch und Christoph Wagner, Verlag Schnell & Steiner GmbH Regensburg, 2022/2, S. 163–171.

ISSN 1432-9506




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