Was Laser-Wasserwaagen mit japanischer Tuschemalerei und Mondlandschaften gemeinsam haben
Leicht soll es aussehen! Wie in Trance springen die schwitzenden Körper in ihren grellbunten Funktionssachen aus feinstem Polyester an den Trainingsgeräten auf und ab, sie stemmen und stützen, sie drehen und heben, beäugen und motivieren sich und werden dabei zu lebenden Kunstwerken, die absonderliche Haltungen einnehmen. Dazu wummert psychedelischer Techno aus tragbaren Boxen. Vor Corona pendelte die Malerin und Grafikerin Lisa Chandler halbjährlich zwischen L.E. und Golden Bay, Neuseeland. Andere Künstler aus aller Welt tun es ihr gleich. Mit den neuen Seen und dem Neuseenland besticht die durch die Tagebaue erschaffene frühere Mondlandschaft inzwischen mit pazifischem Lifestyle, an deren Sandstränden durchtrainierte Sportler wie am Santa Monica Beach oder in Malibu krampfhaft lächelnd ihre Klimmzüge, Burpees und Jumping Jacks absolvieren. Kleinparis, wie schon Goethe die malerisch zwischen Auenwäldern gelegene kleine Stadt mit dem großstädtischen Flair nannte, lockt seit Jahren fast magisch Künstler aus aller Welt an: Maribel Mas kam, mit einer Zwischenstation in Barcelona, aus Venezuela, um hier künstlerisch tätig zu sein. Der in Fez, Marokko, geborene Nabil El Makhloufi studierte Malerei in Rabat und Leipzig. Und blieb.
Aber nicht wegen des Naherholungswertes oder RB pilgern Künstler aus Australien, den USA, Korea, Südafrika oder Japan nach Leipzig, sondern wegen des Raumes, den sie hier vorfinden. Der Atmosphäre. Die Baumwollspinnerei mit ihrer schier unendlichen Anzahl großzügiger Ateliers führt schon seit längerem eine Warteliste. Meist werden die Ateliers unter der Hand von Künstler zu Künstler weitergegeben, so begehrt sind die Räume. Nicht nur wegen des vor allem für figurative Maler inspirierenden, kreativitätsfreundlichen Umfelds, sondern auch wegen der vergleichsweise bezahlbaren Preise. Ja, Berlins kleine Schwester im Osten boomt. Die Mieten steigen und jede Baulücke wird mit Luxus zugepflastert, auf dessen Feldzug Fußbodenheizungen die alten Kachelöfen verdrängen. Aus einer internationalen Perspektive ist Leipzig trotzdem hochattraktiv, auch, weil selbst arrivierte bildende Künstlerinnen angesichts des Gedankens an ein Atelier in den ehemaligen Künstlervierteln Saint-Germain-des-Prés oder in SoHo einen Instant-Nervenzusammenbruch erleiden und vor Wut mit Acryl, Ölfarben und Pinseln um sich werfen.
LIA, das Leipzig International Art Programme in der Baumwollspinnerei erleichtert Künstlerinnen und Künstlern einen Arbeitsaufenthalt in der Stadt, in der schon Johann Sebastian Bach mit teilweise einer Kantate pro Woche ein fast beängstigend hohes Kreativitätspensum an den Tag legte. Auch die 1982 in Aichi geborene Künstlerin Aika Furukawa kam 2010 mit LIA für ein halbes Jahr erstmals in die Stadt an der Weißen Elster und später mit japanischen Stipendien mehrfach und länger wieder. Heute hat sie Ateliers in Tokyo, Brüssel und der Baumwollspinnerei. Die Mutter eines einjährigen Sohnes stammt aus einer Familie mit einer Generationen alten Kunsttradition. Ihr Großvater und ihr Onkel waren Kalligraphen, die Mutter Kunstlehrerin. Während andere Kinder mit Filzstiften nach Zahlen malten und Tamagotchis umsorgten, wurde sie im korrekten Umgang mit Pinsel und Tusche geschult. Gemeinsam besuchte die Familie im Urlaub Museen in den USA und ganz Europa, sie besichtigte an die hundert Kirchen und Kathedralen und sog die westliche Hochkultur in sich auf. Von klein auf wuchs Furukawa ganz selbstverständlich mit beiden Welten auf, der asiatischen und der westlichen: „Kunst ist Kunst. Ein Bild spricht den Betrachtenden immer authentisch an, ungeachtet seiner Wurzeln. Sowohl jener des Betrachters als auch des Bildes,“ so Furukawa. Für sie ist es das normalste der Welt, Kulturen zu mischen, beziehungsweise frei aus verschiedenen kulturellen Pools zu schöpfen: „Zuerst ist der individuelle Eindruck wichtig, dann erst kommt der kunsthistorische Hintergrund“, sagt sie. Aus Bewunderung für Vincent van Goghs Werke griff sie mit 12 Jahren zu Ölfarbe und Leinwand. Daneben gehören Max Klinger, Itō Jakuchū, Bill Viola und der Fotograf Hiroshi Sugimoto zu ihren künstlerischen Vorbildern. Beeinflussen ließ sie sich im jungen Erwachsenenalter besonders von Itō Jakuchū, einem Maler der mittleren Edo-Zeit, der von 1716 bis 1800 in Kyoto lebte. Jakuchū malte lebenstreu und unfassbar detailliert – manche Details soll man sogar erst unter dem Mikroskop erkennen. Ein Anliegen von ihm war es, die lebendige Bewegung einzufangen. Er malte dabei direkt vom Objekt und ohne jegliche nachträgliche Korrekturen.
Aus dieser kunsthistorischen Perspektive betrachtet ist es daher kaum verwunderlich, dass Aika Furukawa ursprünglich hauptsächlich wegen Max Klingers Monumentalgemälde Christus im Olymp (1892–96) nach Leipzig kam, und nicht, um sich in den Sog der Neuen Leipziger Schule zu begeben, durch die Leipzig vor rund zwanzig Jahren die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstwelt auf sich zog.
Während viele Einheimische Leipzig, wenn nicht als Groß-, so doch zweifelsfrei als Stadt ansehen, so schätzt Furukawa den Platz, die Ruhe und die unberührte Natur. Für sie ist es hier im Vergleich zur japanischen Hauptstadt mit ihrem irrwitzigen Mix, atemberaubenden Tempo, Chaos und der überquellenden Fülle wie auf dem Dorf. Wo es in Tokyo hektisch und neonbunt blinkt, kann man in Leipzig meditativ unter Linden, Eichen und Hainbuchen wandeln: Der Auwald und die waldnahen Parks ziehen sich als grüner Gürtel durch das Stadtgebiet.
Kaum englisch, geschweige denn deutsch konnte sie, als sie hier landete. Die Spinnerei empfand sie als weltoffen, schnell fühlte sie sich angekommen. Leicht war es, Kontakte und künstlerischen Austausch zu finden, aber umso schwieriger, Zugang zum Kunstmarkt zu gewinnen. Dieser erwies sich als ziemlich abgeschottet. Man müsse quasi an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) studiert haben, um anerkannt und aufgenommen zu werden, so Furukawa, was sie zumindest questionable findet, weil damit die Leipziger Kunstwelt manchmal auch ziemlich im eigenen Saft schmore. Auch andere Künstler aus fremden Ländern, etwa der in Moskau studierte Lexander Prokogh oder Anamaria Avram aus Rumänien sprechen von diesem Phänomen – sie hätten es noch schwerer als hiesige Künstler, in eine Galerie reinzukommen. Sie arbeiten hier und verkaufen woanders. Als Furukawa sich nach mehr Weltläufigkeit und Freiheit sehnte, fand sie diese in Brüssel, behält aber weiterhin ihr Atelier in Leipzig und ist regelmäßig hier.
Ähnlich erging es der 1980 in Hiroshima geborenen und in Osaka und Tokyo aufgewachsenen Künstlerin Yuka Kashihara. Zunächst studierte sie japanische Malerei in Tokyo und zog 2006 nach Leipzig, wo sie ihr Malereistudium bei Prof. Annette Schröter mit einem Meisterstudium abschloss. Während es ihr trotz des Studiums an der HGB nicht gelang, eine Leipziger Galerie für sich zu gewinnen, überzeugt sie in Japan mit Museumsausstellungen, unter anderem 2021 in einer Einzelausstellung im Pola Annex Museum in Tokyo und 2016 im Ohara Museum of Art in Okayama. Seit 2018 lebt und arbeitet Kashihara in Berlin.
Egal, wie weltoffen und liberal sie sich geben, in Leipzigs Galerien heißt es offenbar: „Geschlossene Gesellschaft“! Fast durch die Bank weg vertreten sie hiesige Urgesteine. Diese Fokussierung kann zweifellos eine Chance sein. Galeriebesucher wissen, was sie erwarten und was sie bekommen können: Kunst aus Leipzig. Die Chancen internationaler Künstler steigen, wenn sie hier studiert haben – oder woanders leben! Dies scheinen die ungeschriebenen, ehernen Gesetze der Leipziger Galerienszene sein: Tobias Naehring vertritt Nadira Husain. Diese wohnt in Berlin. Am internationalsten aufgestellt ist wohl noch die Josef Filipp Galerie, die mit Künstlerinnen wie der in Braunschweig lebenden Rui Zhang aus China oder John Berry aus den USA zusammenarbeitet. Der figurative Maler Ian Cumberland aus Nordirland und der von Jochen Hempel vertretene Carlos Sagrera mögen geradezu spektakuläre Ausnahmen sein, denn sie leben nicht nur in der sächsischen Messestadt, sondern haben es auch geschafft, von einer lokalen Galerie akkreditiert zu werden.
Es gelten halt überall ein wenig unterschiedliche Regeln. In Japan sei es äußerst schwierig, so Furukawa, überhaupt an der Kunsthochschule aufgenommen zu werden. Von fünfzig bis sechzig Bewerbungen wäre nur eine erfolgreich. Sie hat es geschafft. Beim meditativen Reiben des Tuscheblocks und Anrühren der sumi-Tinte mit Hilfe des Suzuri, eines rechteckigen Tuschesteins, in dem sich eine leichte, wassergefüllte Vertiefung befindet, bringt sie nichts aus der Ruhe. Aika Furukawa bereitet eine Rauminstallation mit großformatigen, bodentief in den Raum hängenden Arbeiten aus transparenter Leinwand vor. Ihre Wandmalereien atmen neben bewegter barocker Opulenz die strengen Regeln des Sumi-e, der japanischen Tuschemalerei. Virtuos verbindet sie die klassischen japanischen Malereitechniken mit europäischen Bildtraditionen, verschnörkelten Barock mit nüchternem, lebendigem Sumi-e, als gäbe es da keinerlei kategorischen Unterschied. Die Künstlerin arbeitet nur mit kleinen Skizzen und malt dann frei in verschiedenen Grauwerten und Schwarz direkt auf die Wand, wobei sie die über die ganze Höhe der Wand geworfene rote Linie der Laser-Wasserwaage notorisch überschreitet. Der Laser sorgt in der freien Arbeit ohne Vorzeichnung für die nötige Orientierung. Korrekturen? Unmöglich.
Für mehr Informationen über Aika Furukawa: https://www.furukawaaika.com/
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