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Die Kreuzfahrt

Aktualisiert: 27. März 2021



Selma fuhr so dahin, als sie bemerkte, dass der Motor ihres Porsche Cayenne rauchte. Es zischte, dann verstummte er. Wenige Meter später blieb der Wagen lautlos stehen. Er war neu, nur zwei Wochen alt, und sein schwarzer Lack schimmerte im Sonnenschein. Selma liebte ihren Cayenne, vor allem des angenehmen Fahrgefühls bei Tempo 220 wegen, wie das vor fünf Minuten noch der Fall war. Aber jetzt rauchte und spuckte das Gefährt auf dem Standstreifen, während die anderen Autofahrer an Selma vorbeirasten. Sie suchte nach einem Notruftelefon, aber da keines zur Stelle war, nahm sie ihr Mobiltelefon und wählte die Nummer des ADAC. Jedoch, es schien beinahe so, als wären alle Gelben Engel ausgeflogen, jedenfalls wollte keiner von ihnen ans Telefon gehen. Alle Leitungen seien besetzt, sie solle sich einen Moment gedulden, sie würde sogleich verbunden. Selma geduldete sich eine halbe Stunde lang. Dann öffnete sie in einem unsinnigen Anfall von Selbstbestimmungsdrang die Haube des Motors – aber an einer Plastikverschalung lässt sich nichts drehen noch schrauben. Und abgesehen von einem Warndreieck und einem Wagenheber hatte sie auch kein Werkzeug dabei. Aus nämlichem Grund.

Am Abend war Selma in Berlin zum Essen verabredet. Jetzt war es 15 Uhr und noch 500 km Fahrt. Wieder wählte sie die Nummer des ADAC, doch diesmal hieß es an der anderen Leitung „Kein Anschluss unter dieser Nummer. Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Leider war auch die Leitung der Auskunft tot, und dann war der Akku leer. Sie streckte den Daumen raus, aber niemand hielt. Was für ein Pechtag! Selma strich sich durch das Haar. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den geliebten Wagen stehen zu lassen. Nur gut, dass die Autobahn zufällig nahe einer größeren Ortschaft vorbeiführte. Nürnberg, oder so. Es war also nicht allzu weit bis zum nächsten Bahnhof. Der ICE nach Berlin fuhr schon bald, und so hatte Selma wenig Zeit, sich mit dem Gedanken an eine Bahnfahrt anzufreunden. Aber es genügte.

Der Zug fuhr nicht eben langsam, dennoch vermisste Selma das Gaspedal. Sie schmiegte sich in den weichen 1.-Klasse-Sessel. Dann zog sie ihren Laptop hervor. Die unerwartete Zugfahrt hatte immerhin den Vorteil, dass sie ein wenig an ihrem Vortrag feilen konnte. Aber auf der Steckdose war kein Strom, und auch auf keiner anderen im ganzen Zug. Selma wunderte sich ein wenig und wollte sich beim Schaffner beschweren, als der Zug auf offener Strecke stehen blieb. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass er die Geschwindigkeit verringert hatte. Aber jetzt stand er.

Sämtliche Fahrgäste wurden angewiesen, ihre Reise mit dem bereitgestellten Regionalzug fortzusetzen, da die Strecke aus technischen Gründen nicht von einem Hochgeschwindigkeitszug befahren werden könne. Selma runzelte die Stirn. Der Zug war nicht besonders voll. Offenbar war keine Stoßzeit, denn Selma war der einzige Fahrgast. Mit einer gewissen Verwunderung betrachtete sie den einfahrenden RE. Dann nahm sie ihr mageres Gepäck und suchte sich einen schönen Fensterplatz. Das war nicht schwer.

Die Fahrt durch das malerische Saaletal genoss Selma richtiggehend. Noch nie hatte sie diese Strecke, die sie schon so oft gefahren war, so bewusst wahrgenommen. Beim nächsten Mal musste sie unbedingt einen kleinen Zwischenstopp in Naumburg einlegen – das nahm sie sich jetzt fest vor. So ein hübsches Städtchen! Und der Dom!

„Aber Sie wissen schon, dass der Zug in Hof endet, nich?“

Selma zuckte zusammen. Wo war ihre Fahrkarte?

„Fahrkarte brauchen Sie nicht. Ich vertraue Ihnen. Sie haben ein freundliches Gesicht. Also denn, gute Fahrt.“

„Moment mal, warten Sie einen Moment!“

„Ja?“

„Habe ich das gerade richtig verstanden? Der Zug fährt nur bis Hof?“

„Genau. Das haben Sie ganz richtig verstanden. Nächste Station müssen Sie aussteigen.“

„Aber Hof liegt doch gar nicht auf der Strecke!“

„Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen. Hof ist Endstation.“

„Und wie komme ich von dort weiter? Ich muss heute Abend in Berlin sein, wissen Sie?“

„Dazu kann ich Ihnen leider auch nichts sagen. Aber ich bin mir sicher, dass man Ihnen in Hof alle nötigen Informationen geben wird. Ich kann Ihnen hier vom Zug aus leider nicht weiterhelfen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden – die Ansage spricht sich nicht von allein.“

Und tatsächlich wurde Selma in Hof sehr zuvorkommend behandelt. Ein ganz in schwarz gekleideter Chauffeur empfing sie direkt am Bahnsteig und geleitete sie, wobei er die besten Umgangsformen an den Tag legte, zu seinem Wagen.

„Darf ich bitten?“

Selma zögerte einen Moment. Bislang war sie nur einmal mit einem Fiaker gefahren, und das war seinerzeit in Wien.

„Sie machen wohl Witze – ich steig doch nicht in diesen Fiaker!“

„Aber das ist doch kein Fiaker – das ist ein ganz normales Pferdefuhrwerk!“ empörte sich der Fahrer mit leicht gereiztem Unterton, wobei er seine gezierte Haltung streng bewahrte.

„Wissen Sie eigentlich, wo ich heute Abend sein muss?!“

„Nein. Wollen Sie´s mir verraten, gnädige Frau?“

„In Berlin! – Mit einem Pferdefuhrwerk nach Berlin zu fahren, das ist doch Wahnsinn! Heute Abend muss ich da sein, sonst, sonst ...“

„Wie Sie das schaffen wollen weiß ich freilich nicht, aber ich fahre ja auch nur bis Lichtenfels.“

„Lichtenfels? Weshalb? Kann ich von dort aus dann wieder mit dem ICE weiterfahren? Dann könnte ich es vielleicht sogar noch schaffen.“

„ICE?“

Selma hob zu einer Erklärung an, erkannte aber schnell die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens. Der Kutscher schien wie aus einer anderen Zeit zu stammen. Woher sie diese Gewissheit nahm, konnte sie sich selbst nicht so recht erklären. Ganz Unrecht hatte sie damit jedenfalls nicht.

„Von Lichtenfels aus müssen Sie dann zu Fuß weitergehen. Die Straßen sind zu schlecht, da komme ich mit dem Wagen nicht durch.“

„Zu Fuß?“

Und da der Fahrer auf ihre Frage nicht reagierte, antwortete sie sich selbst: „Von Lichtenfels zu Fuß nach Berlin. – Aber sicher, selbstverständlich.“ Nach diesem seltsamen Tag war sie wirklich durch nichts mehr zu erschüttern, und so nahm sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit, als ob sie nie etwas anderes getan hätte, Platz auf dem Kutschbock. Sie ließ sich den sanften Fahrtwind ins Gesicht wehen, lauschte dem freundlichen Getrappel der Pferdehufe und führte eine angeregte Unterhaltung mit dem manierlichen Wagenlenker. In Lichtenfels angekommen, half er ihr aus dem Wagen und zeigte ihr die Richtung, in welche sie weitergehen müsse. Dann steckte er ihr noch einen kleinen Proviant zu. Für unterwegs.

Selma lief, und lief, und lief, während sie ihren kleinen Rollkoffer hinter sich herzog. Über Berge, durch Täler und an gewundenen Flussläufen entlang. Sie beobachtete wiederkäuende Kühe auf der Wiese, sah grasende Rehe auf dem Acker, Kaninchen, eine Maus, und hoch droben kreiste ein Rotmilan. Mit weichen, tiefausholenden Flügelschlägen bewegte er sich stolz durch die Lüfte. Zuweilen stieß er einen gedehnten, pfeifenden Ruf aus. Beinahe hatte Selma das Gefühl, der Vogel würde sie auf ihrem Weg begleiten. Bei Einbruch der Dämmerung suchte sie sich eine Unterkunft für die Nacht.

Am nächsten Tag setzte sie ihre Wanderung fort. Und so ging das fast zehn Tage lang. Kühe, Rehe, Raubvögel. Ein wenig beschwerlich waren die wunden Füße am zweiten Tag, aber sie gewöhnte sich an den Schmerz. Die blutigen Strümpfe wusch sie abends von Hand aus, und am nächsten Tag ging es wieder weiter.

Auf ihrem Weg begegnete sie mehreren anderen Wanderern, die allesamt sehr einfach und schlicht gekleidet waren. Sie rochen nicht so, als wären sie soeben der Dusche entstiegen, aber es waren allesamt freundliche Menschen. Zuweilen gingen sie eine bestimmte Strecke gemeinsam, unterhielten sich, sangen ein Lied, und dann trennten sich ihre Wege wieder. Ein paar Mal trabten stolze Reiter an Selma vorbei. Sie schienen sie seltsam zu begutachten, fast so als käme sie von einem anderen Planeten. In Berlin angekommen, holte sie ihr Mann am Bahnhof ab.

„Du hast dich also für den Zug entschieden, Liebling! Und ich dachte, du wolltest mit dem Flugzeug von München kommen. Jetzt küss mich doch erstmal!“

„Mit dem Zug? Ach ja, ich hatte vergessen. Das Flugzeug hatte irgendwelche Startschwierigkeiten, oder Startverbot, oder etwas in der Art. Jedenfalls mussten wir alle wieder aussteigen. Ich hab dann das Auto genommen.“

„Aber jetzt bist du doch mit dem Zug gekommen! – Ist ja auch egal, wie du hergekommen bist. Jetzt bist du ja da!“ Er schaute an ihr herunter. „Schatz, du siehst erschöpft aus – mit dem Zug, ja, das ist eine lange Reise! Komm, wir gehen! – Ich habe einen Tisch in deinem Lieblingsrestaurant reserviert. Freust du dich?“

Selma lächelte müde. Er schien nicht zu begreifen.



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